In Österreich wird Bürgerbeteiligung jedoch nur selten genutzt. Die meisten Projekte sind lokal begrenzt oder betreff en Entscheidungen von vergleichsweise geringer Tragweite. Damit bleibt ein enormes Potenzial bisher ungenutzt. Bereits umgesetzte  Beteiligungsverfahren verdeutlichen, dass es durch die innovative Nutzung von Bürgerbeteiligung gelingt, die wachsende Kluft zwischen Bevölkerung und Politik zu verringern und gesellschaftlich tragfähige Lösungen zu umstrittenen Themen zu entwickeln – von der  Sanierung der Gemeindehaushalte bis hin zu Strukturreformen im Gesundheitssystem.

Die Mehrzahl der Entscheidungsträger in Bund, Ländern und Gemeinden stehen der Bürgerbeteiligung grundsätzlich positiv gegenüber. Zur Umsetzung fehlt ihnen jedoch häufig das Know-how und vor allem Mut. Es lohnt sich daher, von den innovativsten Projekten zu lernen. Zu den erfolgreichsten Organisationen in diesem Bereich zählt AmericaSpeaks. Diese NGO begleitet seit 15 Jahren Bürgerbeteiligungsprozesse. In über 50 erfolgreichen Großveranstaltungen mit mehr als 130.000 Teilnehmern wurden umfangreiche Erfahrungen gesammelt, die sich auch für kleinere Prozesse nutzen lassen. Daher hat sich ICG mit AmericaSpeaks zu einem intensiven Know-how-Austausch zusammengeschlossen, um dieses Wissen auch für unsere Kunden nutzbar zu machen. Aus der gemeinsamen Arbeit entstanden einige Empfehlungen, wie Bügerbeteiligung in Österreich verbessert werden kann.

Anlass und Ziele klar definieren

Um ein passendes Vorgehen auszuwählen, müssen der Anlass und das Ziel hinreichend bekannt sein. Was selbstverständlich klingt, wird in der Praxis häufi g vernachlässigt. Es macht einen wesentlichen Unterschied, wofür ein Bürgerbeteiligungsprozess initiiert wird:

  • Geht es zum Beispiel nur darum, rechtlichen Vorschriften zu genügen oder liegt dem Beteiligungsprozess ein erweitertes Demokratieverständnis zu Grunde, welches die Bevölkerung nicht nur als Kunde, sondern auch als Souverän, Eigentümer und Financier öffentlicher Leistungen erkennt?
  • Werden bessere Entscheidungsgrundlagen erwartet oder soll die Bevölkerung selbst mitentscheiden?
  • Wird eine Mobilisierung dahingehend erhofft, dass Bürger Teilleistungen selbst übernehmen?
  • Soll die Akzeptanz bei den Betroffenen erhöht werden (als Wert an sich) oder stehen Reputationsrisiken im Vordergrund (Legitimation gegenüber Öffentlichkeit und Dritten)?

Jeder Anlass hat spezifische Stärken und Schwächen (einen Überblick finden Sie unter www.partizipation.at). In jedem Fall ist es wichtig zu entscheiden, in welcher Projektphase Bürgerbeteiligung sinnvoll ist: in der Informationssammlung, Entscheidungsfindung, Implementierung oder im Monitoring? Weiters ist festzulegen, wie groß der Einfluss der Bürger auf die Entscheidungsfindung sein soll. Sind Information, Konsultation (Meinungen einholen) oder Mitentscheidung das Ziel?

Die richtigen Teilnehmer in den Raum bringen

Vor allem in kleineren Gemeinden wird häufig die Erfahrung gemacht, dass zu herkömmlichen Bürgerbeteiligungen stets die »üblichen Verdächtigen« kommen, deren Meinungen oft bekannt und wenig repräsentativ sind.

Wirkliche Repräsentativität der Gesamtbevölkerung ist aber auch in den wenigsten Fällen realistisch und notwendig. Die Qualität steigt jedoch bereits maßgeblich, wenn die Teilnehmer per Zufallsprinzip ausgewählt werden. Wo sinnvoll, findet die Zufallsauswahl  innerhalb bestimmter Gruppen statt (Geschlecht, Region, Alter, Ausbildung). Diesen Weg beschreitet derzeit beispielsweise die Vorarlberger Landesregierung im Rahmen der sehr erfolgreichen Bürger-Räte. Hierbei erarbeiten 12 bis 16 zufällig ausgewählte Personen in einem 1 ½-tägigen Prozess (nach der Moderationsmethode Dynamic Facilitation von Jim Rough) Vorschläge zu aktuellen Themen der Gemeinde und spiegeln diese in weiteren Schritten mit der breiten Bevölkerung, Politik und Verwaltung.

AmericaSpeaks ist weltweit Vorreiter bezüglich der Anzahl und Repräsentativität der Teilnehmer. Traditionell unterrepräsentierte gesellschaftliche Gruppen werden gezielt angesprochen. Wer durch Kinderbetreuung, fehlende Sprachfertigkeiten oder eingeschränkte Mobilität an einer Teilnahme gehindert wäre, wird gezielt unterstützt. Es gelang beispielsweise, in der aufgeheizten Stimmung nach den Anschlägen des 11. September in New York ein Bürgerforum zu organisieren, bei dem auch konservative  muslimische Frauen zur Sprache kamen. Durch dieses erfolgreiche Bürgerforum wurde der gesamte Infrastrukturaufbau in New York inklusive U-Bahn-Führung wesentlich verbessert.

Dialog auf Augenhöhe ermöglichen

Qualitativ hochwertige Bürgerbeteiligung unterscheidet sich von Befragungen insofern, als dass durch die persönliche Auseinandersetzung eine weitaus differenziertere Meinungsbildung stattfindet. Empirische Untersuchungen belegen, dass die so gebildeten Meinungen wesentlich stabiler sind als die ursprünglichen Überzeugungen. Solche Prozesse bilden das Herz einer Demokratie. Sie finden jedoch nicht automatisch statt, sondern benötigen einen geeigneten Rahmen und eine professionelle Moderation.

Die Versuche einer Bürgerbeteiligung über das Internet sind da keine ausreichende Alternative. Auf diesem Weg gelingt es nicht, einen Dialog in vergleichbarer Qualität zu organisieren. Der übliche Prozess dabei ist vielmehr, dass sich Gruppen bilden, die ihre Meinungen festigen und sich gegenseitig abwerten. Wirkliches Zuhören fi ndet nach wie vor fast nur in persönlichen Begegnungen statt.

Den Bürgern mehr zutrauen – Mut zu harten Entscheidungen

Einzelne österreichische Gemeinden fassen mittlerweile Mut, auch harte Themen wie die öffentlichen Finanzen mit Bürgern zu besprechen – wie zum Beispiel die Gemeinde Weiler in Vorarlberg oder die Gemeinde Vorderstoder in Oberösterreich, in der aktuell ein erster Bürgerhaushalt vorbereitet wird. Erfolgreiche internationale Beispiele verdeutlichen schon lange, dass gerade Themen, die auf politischer Ebene nicht gelöst werden konnten, durch gute Bürgerbeteiligung zu tragfähigen Lösungen geführt haben.

Das bekannte Bürgerbudget von Porto Alegre (Brasilien) – bei dem Bürger über große Versammlungen Repräsentanten wählen und Budgetschwerpunkte für die 1,5-Millionen-Einwohnerstadt setzen. Seit seiner Einführung 1989 hat dieses Projekt weltweit Nachahmungen gefunden: sowohl in Entwicklungs- und Schwellenländern, als auch in Industrieländern, Städten und einzelnen Bezirken.

Voraussetzung für eine qualitativ hochwertige Beteiligung ist, dass Bürger gute Entscheidungsgrundlagen erhalten. Auch hier ist AmericaSpeaks vorbildhaft. Durch intelligente und transparente Datenaufbereitung gelingt es beispielsweise, dass Bürger in Washington D. C. innerhalb kurzer Zeit informierte Entscheidungen über Budgetprioritäten fällen. Der Mix aus moderierten Kleingruppendiskussionen mit sofortigen elektronischen Abstimmungsmöglichkeiten mehrerer tausend Menschen ermöglicht eine  unmittelbare Meinungs- und Willensbildung. In diesem Prozess, bei dem sich Menschen mit unterschiedlichen Ansichten mehrere Stunden auf Augenhöhe austauschen, zählt nicht, wer sich durchsetzt, sondern dass Lernprozesse und wirkliches Zuhören stattfindet.

Bürgerbeteiligung institutionell verankern

Partizipation sollte ein integrativer Teil der Verwaltungskultur werden. Die Kosten für Know-how-Aufbau, externe Experten und Infrastruktur werden dadurch erheblich reduziert. Der Nutzen steigt mit der Erfahrung und wiederholter Anwendung. Die indirekten  Kosten schlechter Entscheidungen (Opportunitätskosten) sind oft höher als die direkten Kosten für gute Beteiligungsprozesse.

In Österreich gilt Bürgerbeteiligung bei vielen Entscheidungsträgern noch als risikobehaftet, aufwendig und teuer. Ein genauer Blick auf die bisherigen Erfahrungen stärkt jedoch den Mut und die Ambition von Politik und Verwaltung.