Das Geheimnis zukunftsfitter Organisationen

Zukunftsfitte Organisationen sind nach unserer Definition jene, die in der VUCA-Welt handlungsfähig bleiben. Ein entscheidender Schlüssel hierfür ist, auf die eigenen Mitarbeiter:innen zu setzen und ihnen mehr Handlungs- und Entscheidungsspielräume zu geben. Dabei fällt sehr schnell das Stichwort „Self-Autonomy“ bzw. Selbstorganisation. In diesem Artikel möchten wir mit einigen Mythen rund um Selbstorganisation aufräumen und den Schlüssel für die erfolgreiche Wahrnehmung von mehr Gestaltungsspielraum aufzeigen.

Mythos Nr. 1: Mitarbeiter:innen können und wollen grundsätzlich selbstorganisiert arbeiten

Gestaltungsspielraum wünschen wir uns alle, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Selbstorganisation überschreitet Gestaltungsspielraum, wenn statt Delegation echte Machtübertragung stattfindet. Erstere kann jederzeit auch entzogen oder situativ angepasst werden, letztere hingegen ist dauerhaft.

Hierarchische Beziehungen sind nicht per se schlecht und haben aus Sicht der Mitarbeiter:innen auch Vorteile. So können Unstimmigkeiten, Konflikte und unangenehme Entscheidungen generell an die Führungskraft delegiert werden. In einem vollständig selbstorganisierten Team müssen die einzelnen Teammitglieder hingegen alle, auch die unangenehmen Entscheidungen, selbst treffen. Das wollen nur nicht alle.

Hierarchische Beziehungen sind meist klar kommunizierbar und im Zeitablauf konstant, wodurch Sicherheit und Stabilität vermittelt wird. Wenn Mitarbeiter:innen Vorgaben kritisieren, ist dies nicht automatisch eine Ablehnung der Vorgabe per se. Es kann genauso gut eine inhaltliche Kritik an der Vorgabe sein, während die Vorgabe selbst – bewusst oder unbewusst – erwünscht ist.

Zwischen den beiden Polen Hierarchie und Selbstorganisation gibt es jedenfalls eine große Bandbreite an Modellen der Zusammenarbeit. In jedem Fall wünschen sich Mitarbeiter:innen Authentizität. Aus unserer langjährigen Erfahrung in Transformationsprojekten wissen wir, dass Mitarbeiter:innen einen ausgeprägten „Bullshit-Sensor“ haben. Nichts ist schlimmer ist, als inkongruente Botschaften zwischen dem Gesagten und dem, was durch das tägliche Tun vermittelt wird.

Handlungstipp: Nicht halbherzig delegieren, sondern bei der Veränderung von Mustern und der Erweiterung von Handlungsspielräumen besonders auf die stringente Umsetzung der neu aufgestellten Regeln achten – z.B. im Rahmen regelmäßiger Team-Retrospektiven.

Mythos Nr. 2: Selbstorganisation ist basisdemokratisch und konsensorientiert

Selbstorganisation heißt nicht, dass alle immer mit allem einverstanden sein müssen. Werden konsensorientierte Modelle der Zusammenarbeit gewählt, verlangsamt sich jedenfalls die Umsetzung. Bei den Beteiligten kann rasch ein Gefühl der Ineffizienz aufkommen. Jedenfalls führt es dazu, dass sich ein Team immer auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt. Dies steht Effektivität und Schlagkraft deutlich entgegen.

Für (vollständig) selbstorganisierte Teams sind andere Formen der Zusammenarbeit notwendig. Einige Teams nehmen Anleihe an Holacracy, Sociocracy 3.0 o.ä., andere machen Cherry-Picking oder gehen gleich eigene Wege. Allen selbstorganisierten Organisationsformen ist gemein, dass Entscheidungskompetenzen, die normalerweise bei der Führungskraft liegen, auf die Teammitglieder verteilt werden. Im Gegensatz zum hierarchischen Prinzip ist diese Verteilung jedoch weniger stark gebündelt und weniger stabil bei den gleichen Personen verortet. Für eine erfolgreiche Selbstorganisation muss daher eine kontinuierliche, effiziente und transparente Adaptierung der Machtverteilung immanenter Bestandteil des Systems sein.

Handlungstipp: Entscheidungen im Konsent statt Konsens treffen: Solange Teammitglieder keine schwerwiegenden Einwände haben, werden Entscheidungen einzelner Teammitglieder akzeptiert.

Mythos Nr. 3: Mit Selbstorganisation kann man sich die mittlere Management-Ebene sparen

Wenn Einsparung die Antwort ist, dann wurde die Frage falsch gestellt. Anders ausgedrückt: Die Motivation für Selbstorganisation oder auch einfach nur für mehr Gestaltungsspielraum sollte nicht aus dem Kostenargument heraus getroffen werden. Viel eher ist es ein Baustein in Richtung einer Organisation, die in der Lage ist, das Gestaltungspotenzial jedes Einzelnen und von Teams zu nutzen.

Eine erfolgreiche Umsetzung sollte Mitarbeiter:innen insofern entgegenkommen, da die Forderungen der Millenials nach mehr Selbstbestimmung und Zusammenarbeit auf Augenhöhe eher erfüllt werden können. Bei der Umsetzung ist allerdings Vorsicht geboten. Selbstorganisation ist ein großer Schritt; eine schrittweise und immer stärkere Delegation von Entscheidungsverantwortung an Teammitglieder kann ein passender Zwischenschritt sein.

Handlungstipp: Regelmäßige Team-Retrospektiven (z.B. zwei Mal pro Monat) durchführen und die Selbstreflexion und Kritikfähigkeit im Team stärken.

 Nutzung von Gestaltungsspielraum erfordert mehr „inside the skin“

Wenn nun die Ausweitung des Gestaltungsspielraums ein Lösungsansatz ist, stellt sich die Frage, ob die Mitarbeiter:innen diesen potentiellen Gestaltungsspielraum überhaupt wahrnehmen wollen und können. Zur Beantwortung hilft das AQAL-Modell (siehe Abb.1), das auf der integralen Theorie von Ken Wilber basiert. Es besagt, dass alle Quadranten berücksichtigt werden müssen, um ein vollständiges Bild der Realität zu erhalten.

Grafische Darstellung auf Achsen des All Quadrants / All Levels Modells
Abb. 1

Demnach haben sowohl wir selbst, als auch unsere Organisation nach außen sichtbare Merkmale. „Outside the skin“ können wir unsere Fähigkeiten und Kompetenzen unter Beweis stellen und legen ein bestimmtes Verhalten an den Tag. Ebenso hat jede Organisation nach außen sichtbare Strukturen und Prozesse. Hierarchische Beziehungen können auf dieser äußeren Struktur gut aufgebaut werden. Wenn es jedoch darum geht, mehr Gestaltungsspielraum zu ermöglichen, ist es umso erfolgskritischer, auch die innere Dimension einzubeziehen, also ein ehrliches Commitment „inside the skin“ zu erreichen (siehe Abb. 2).

Grafische Darstellung auf Achsen des All Quadrants / All Levels Modells
Abb.2

Die innere Dimension ist immer wichtig. Längst ist bekannt, dass die Organisationskultur sowohl in stabilen als auch in VUCA-Zeiten vieles ermöglichen, aber auch vieles zunichte machen kann. Aber gerade, wenn es ums proaktive Handeln geht, braucht es vor allem Commitment auf der individuellen Ebene. Dieses ist weder käuflich noch organisierbar.

Auswirkungen auf Strategie und Steuerung

Starten wir mit der Betrachtung der inneren Dimension auf kollektiver Ebene. Hier liegt das „Wofür das Ganze?“ der Gesamtorganisation. Und genau dieses braucht eine ehrliche, ernsthafte Antwort, sowohl für die Gesamtorganisation als auch für alle Organisationseinheiten im Unternehmen. Nur dann können sich die Mitarbeitenden mit ihrem persönlichen Purpose, ihren Weltanschauungen, ihren inneren Überzeugungen, Erwartungen und Interessen in diesem wiederfinden.

Dennoch sind in Wahrheit allzu oft Umsatz-, Rendite-, und Wachstumsziele die wahren Erfolgsmesser in Unternehmen, unabhängig davon was an Vision und Purpose nach außen kommuniziert wird. Ein authentisch gemeinter Purpose bedeutet nicht, dass diese Ziele keinen Platz haben. Ganz im Gegenteil: Es ist auch im Sinne der Mitarbeiter:innen, den Fortbestand und die erfolgreiche Behauptung am Markt ihres Unternehmens zu sichern. Allerdings geht es hier um die Reihenfolge und Priorisierung. Ist der Purpose „echt“, sind rein monetäre Ziele diesem untergeordnet.

Auswirkungen auf Führungskräfte und deren Haltung

Sind die Grundvoraussetzungen auf strategischer Ebene geschaffen, ist es Aufgabe der Führungskräfte die passenden Rahmenbedingungen zu gestalten. Je mehr sich eine Organisation vom Pol der Hierarchie zum Pol der Selbstorganisation bewegt, desto wesentlicher ist ein coachendes Führungsverständnis. Es ist ein Weg vom Wissen zum Können. Dies bedeutet, dass Führungskräfte immer weniger diejenigen sind, die alles wissen und „besser“ sind.

Für viele steht dies in Widerspruch zu dem, was wir in der Schule und im Privaten gelernt haben. Zudem gibt es ganze Berufszweige, man denke an Auditing, die per se nicht irren dürfen. Hier den Schalter umzulegen und sich immer mehr als Rahmengeber:in für eine Kultur des Lernens, der Offenheit, der aufrichtigen Orientierung an Kunden und Menschen zu verstehen, ist ein großer Schritt.

Und doch ist es genau das, was den großen Unterschied macht. So erleben wir beispielsweise in unseren Projekten zu Strategieumsetzung mit OKR (Objectives and Key Results), dass der Fokus auf dem Wissen und auf den äußeren Strukturen liegt: Welche Formate führe ich ein? Wie formulieren wir richtig? Wie passen wir Organisationsstrukturen und Prozesse gut an? Letztlich wird sich der nachhaltige Erfolg jedoch erst dann einstellen, wenn es uns gelingt, die innere Dimension entsprechend einzubeziehen. Und da haben wir alle noch viel zu lernen.