Was sich unsere Organisationen von der dezentralisierten Welt im Netz abschauen können

»Krypto«, und insbesondere Bitcoin, sind höchst umstritten. Was vor wenigen Jahren noch mehrheitlich Assoziationen wie »Cyber-Kriminalität«, Geldwäsche und »Spekulation« hervorrief, ist heute als alternative Anlageklasse etabliert. Die zu Grunde liegende Blockchain-Technologie vielleicht sogar die technische Plattform einer neuen, digitalen Zukunft. Wie uns die Blockchain-Welt in Bezug auf Organisationsentwicklung, Kultur, Führung und Innovation inspirieren kann, wollen wir mit diesem Artikel beleuchten.

Die nächste digitale Revolution

Ein Vierteljahrhundert nach dem Platzen der DotCom Bubble sind die größten Unternehmen der Welt untrennbar mit dem Internet verbunden: Google, Facebook, Amazon, Microsoft, Apple. Massenadoption revolutionärer Technologien dauert meist immer länger als vermutet, ist aber dann noch tiefgreifender als gedacht.

Trotz, oder vielleicht sogar wegen des Erfolges dieser Technologie, hat das Internet allerdings sein ursprüngliches Versprechen nicht gehalten – nämlich ein offenes, dezentrales Netzwerk zu sein, wo alle gleichberechtig mitmachen dürfen (Stichwort Netz-Neutralität und Datenschutz). Dieser Zentralisierung versuchen die Pioniere der Blockchain und Krypto-Welt mit der Entwicklung des Web3 eine attraktive Alternative gegenüberzustellen: ein dezentrales und freies Internet.

Während Bitcoin (die erste erfolgreiche Blockchain-Anwendung) als »digitales Gold« einen klar umrissenen Use Case hat, gehen andere Protokolle wie Ethereum, Cardano, Solana oder Polkadot einen Schritt weiter. Sie ermöglichen, zusätzlich zum dezentralen Werttransfer, so genannte Smart Contract-Funktionen. Darunter versteht man, vereinfacht gesagt, Computerprogramme, die nach einer Wenn-dann-Logik voll automatisch Zahlungsflüsse auslösen, sobald bestimmte Konditionen erfüllt sind. Smart Contract-Plattformen kombinieren digitale Prozesse mit Vertragsabschlüssen und Zahlungen. Viele sehen darin das Potenzial für die größte digitale Revolution unserer Epoche – eine »Automatisierungsrevolution «. Gerade in Kombination mit dem Internet
of Things (IoT) können Blockchains Prozesse und sogar Organisationen hochgradig automatisieren.

Aus unserer Sicht befinden wir uns hier noch in der Pionierphase und es ist keinesfalls klar, welche Plattformen und Anwendungen sich letztendlich durchsetzen. So wie vor gut zwanzig Jahren gibt es wohl auch diesmal wieder eine Spekulationsblase, die früher oder später platzen wird (oder schon/wieder mal geplatzt ist). Aber eines scheint trotzdem klar: die Blockchain, und ihr Paradigma der Dezentralisierung, ist gekommen um zu bleiben.

Was bleibt für die Menschen?

Neben den Vorteilen von digitalen Dienstleistungen in Form von DApps (Decentralized Apps), können wir uns als Anwender:innen an so genannten DAOs (dezentralen autonome Organisationen) beteiligen und somit eine Steuerungs- und Lenkungsfunktion übernehmen. Aus der Perspektive der Organisationsentwicklung sind DAOs daher hoch interessant. Es handelt sich dabei um ein dezentrales, transparentes und programmierbares Organisationsmodell, ein autonom und rein im Internet existierendes »Unternehmen«, das mit hoch reduziertem Management-Aufwand funktionsfähig ist. Alle Regeln, die sonst in einem Gesellschaftervertrag oder einer Satzung definiert werden, sind als Smart Contracts programmiert und damit voll automatisiert und für alle Beteiligte transparent und änderbar – wenn die Mehrheit so entscheidet.

Wie beim Kauf von Aktien kann man beim Erwerb von so genannten Tokens einer DAO bei wichtigen Entscheidungen (»On-Chain Governance«), zum Beispiel über Veränderungen des Protokolls, mitwirken oder einen Vorschlag einbringen. DAOs sollen damit, viel mehr als Aktiengesellschaften, nach direktdemokratischen Prinzipien gesteuert werden.

Für klassische Organisationen stellen sich diese Fragen wohl niemals, ebenso wenig ob klassische Management- und Führungsaufgaben durch die Blockchain ersetzt werden. Trotzdem brechen diese technischen Möglichkeiten mit alten Konventionen.

Wie kann man sich das Web3 vorstellen?

Vergleichbar mit den Internetprotokollen HTTP und TCP/IP, bilden Ethereum, Bitcoin und viele anderen Blockchain-Protokolle die Basisinfrastruktur in Form einer dezentralen, transparenten, fälschungssicheren und nicht veränderbaren Datenbank, in der alle Konten und Transaktionen gespeichert werden. Auf Basis dieser Protokolle sind in den letzten Jahren bereits viele Anwendungen entstanden: In unsere »alte Welt übersetzt« sind das dann Einkaufszentren, Kunstmärkte und Galerien (Stichwort NFT: Non-Fungible Token), Banken und Versicherungen (Stichwort »Decentralised Finance«), Vergnügungsparks (Gaming, Metaverse), soziale Medien
und Suchmaschinen. Der große Unterschied zur alten Welt beziehungsweise dem derzeitigen Web2.0: Die Menschen haben wieder Kontrolle über all ihre Daten und Transaktionen werden Peer-2-Peer (also nicht intermediär und ohne zentralem Server) abgewickelt.

Was können wir vom Ökosystem lernen?

Egal wie man zu dieser utopischen beziehungsweise dystopischen Krypto- und Blockchain-Welt steht, man kann vieles von ihr lernen, vor allem wenn es darum geht, technologieaffine Menschen zu begeistern und mitzureißen. Man könnte meinen, dass die Aussicht auf hohe finanzielle Gewinne der Grund für den Hype ist – ähnlich wie beim Glücksspiel. Wenn man aber etwas genauer hinter die Kulissen blickt, entdeckt man noch ganz andere Treiber für den Erfolg, die auch in der »alten Welt« funktionieren können, vor allem wenn es um die jungen Generationen geht. Was sind also diese Treiber und wie können wir daraus lernen?

Purpose: Power to the people!

Macht über die eigenen Daten

Das Web3, das neue und dezentrale Internet, soll es den Menschen möglich machen, wieder die Kontrolle über ihre Daten zu erlangen (Stichwort: Self Sovereign Identity). Jede und jeder kann selbst entscheiden, ob und welche Daten sie bzw. er monetarisieren will, und wie. Im Gegensatz zu Google und Facebook, wo Daten gesammelt, verarbeitet und für Werbezwecke verkauft werden, soll im Web3 jede und jeder die Möglichkeit haben, mit ihren beziehungsweise seinen Daten Geld zu verdienen, sofern sie oder er das möchte. Wichtig dabei ist, dass man selbst in der Position ist, zu entscheiden (zum Beispiel: Welche Daten möchte ich an Werbeplattformen verkaufen oder an meine Gesundheitsversicherung weitergeben, um bessere Konditionen zu bekommen?). Dazu eignet sich die Blockchain sehr gut, da sie mithilfe von ihrer Verschlüsselungstechnologie die eigenen Daten schützen kann.

Peer-2-Peer und Sharing Economy

Auch wenn heute die Blockchain-Plattformen noch primär für Finanzanwendungen, Gaming und »Kunst« (NFTs) verwendet werden, könnten diese in Zukunft eine technische Plattform sein, über die wir eine nachhaltige Sharing Ökonomie aufbauen. So gibt es bereits Anwendungen für Energiegemeinschaften, Ladestationen für Elektoautos, Carsharing etc., die auf Smart Contact-Plattformen aufsetzen. Im Kern geht es bei Smart Contract-Plattformen immer darum, Transaktionen dezentral, sicher, Peer-2-Peer abzubilden und Werte zu übertragen – somit bleibt mehr bei den Endkundinnen und -kunden. Berufsgruppen und Unternehmen wie Notar:innen, Banken, Versicherungen, jede Art von Broker sehen sich daher massiven disruptiven Strömungen gegenüber.

»Beating the purpose drum«

Diese zwei Aspekte sind an sich schon sehr kraftvoll, allerdings muss dieser Purpose auch effektiv und immer wieder kommuniziert werden. Charismatische Vordenker und Pioniere, wie zum Beispiel Vitalik Buterin (Mitgründer Ethereum) oder Gavin Wood (Ethereum und später Mitgründer Polkadot) transportieren Visionen, Werte und Prinzipien in einer sehr klaren und bescheidenen Art und Weise und treffen damit den Zahn der Zeit und schaffen es zu begeistern.

Kultur: Community und Incentivierung

Jede:r kann bei Blockchain-Projekten äußerst niederschwellig aktiv werden und ist schon Teil der Community – und Community wird in der Blockchain-Welt großgeschrieben. Doch um eine aktive, offene Gemeinschaft zu ermöglichen, braucht es „Community Management“, eine Weiterentwicklung der Human Resources-Abteilung. Blockchain-Projekte verwenden eine ausgeprägte Symbolsprache mit Anlehnung an die Natur und Tierwelt bei Marketing und Branding (Mantarochen, Kanarienvögel etc.). Das ist hoch identitätsstiftend und fördert den Zusammenhalt der Gruppe.

In vielen Blockchain-Projekten gibt es für frühe Unterstützer:innen spezielle Token, die wie eine exklusive Mitgliedskarte funktionieren und bestimmte »Türen« öffnen. So kann man die Beta-Version testen, bei frühen Token Sales partizipieren und vieles mehr.

Ein herausragendes Merkmal bei Blockchain-Projekten und Unternehmen ist die einfache Incentivierung der Mitwirkenden. Denn über die Verteilung von (anfangs wertlosen) Token, können alle, die einen Beitrag leisten, bei Erfolg des Projekts überdurchschnittlich finanziell profitieren – nämlich dann, wenn diese Token auf Krypto-Börsen gehandelt werden. Hier wird die Mitarbeiter:innenbeteiligung einfach übersprungen. Diese sehr niederschwellige Möglichkeit hilft beim Aufbau einer Community.

New Work: Selbstbestimmung, Transparenz & Open Source

In der Blockchain-Welt ist es weniger wichtig, wer man ist und welche Position man hat, sondern was man zur Gemeinschaft oder dem Projekt beiträgt. Dieser meritokratische Ansatz wird mit einer offenen Lernhaltung, Transparenz und Open Source-Prinzipien
unterstützt. So wird der Source Code offengelegt und andere können darauf zugreifen, ihn testen oder weiterentwickeln und – viel wichtiger – darauf aufbauen. In einer globalen Open Source Community muss also nicht jedes Mal das Rad neu erfunden werden, sondern alle haben Zugriff auf alle Informationen und somit kann Innovation sehr rasch vorangetrieben werden. Gepaart mit einer fast schon radikalen Selbstbestimmung (keiner sagt einem was zu tun ist – jede und jeder muss das selbst herausfinden…) erzeugt das bei vielen Individuen eine starke Fokussierung und ein Gefühl von »Flow«. Diese extreme Art der Selbstbestimmung, kann wohl auch als Gegenreaktion auf Hierarchische geführte Organisationen gesehen werden. Es wird interessant sein zu beobachten, ob diese radikale Ausprägung im Zuge des Wachstums dieser Organisationen aufgeweicht wird.

Dezentralisierung und Resilienz

Dezentrale Strukturen sind in vielen Situationen resilienter und agiler als zentral geführte. Gerade in Zeiten von Covid-19 (und Nachwehen, Stichwort Lieferkette) war das zu erkennen. Dezentralisierung kann, trotz zum Teil höherer Kosten, zu mehr Kundennähe, sowie individuelleren, maßgeschneiderten und somit resilienteren Lösungen führen. Für Anwendungsfälle und die digitale Umsetzung bietet die Blockchain die technologische Basis. Eine interessante Frage die sich daraus ergibt: Wo würde ein bisschen mehr Dezentralisierung unserem Unternehmen gut tun und es fit für die Herausforderungen der Zukunft machen? Und wie können wir das umsetzen?

Learnings für meine Organisation

Was können wir durch dieses kurze Eintauchen in die Blockchain Welt für unsere Organisation mitnehmen? Hier wollen wir Sie dazu einladen, über Fragen zu Corporate Governance, Dezentralisierung, Führung und Zusammenarbeit nachzudenken:

  • Governance: Wie zentral / dezentral werden bei uns Entscheidungen getroffen?
  • Purpose: Wie sehr begeistert der Sinn und Zweck unseres Unternehmens die Mitarbeiter:innen, Kund:innen und andere Stakeholder? Wie kommunizieren wir / ich den Purpose?
  • Personal: Welche Stärken, Bedürfnisse und Wünsche haben unserer jungen Talente?
  • Kultur: Was für eine Unternehmenskultur würden sich junge Mitarbeiter:innen wünschen, damit dem Unternehmenszweck energievoll und effektiv nachgegangen werden kann?
  • Community: Welche Kommunikationskanäle gibt es, um mit uns als Organisation in Verbindung zu treten? Werden diese genützt? Warum / Warum nicht? Wie kann es uns gelingen eine Community aufzubauen?
  • Anreize: Welche neuen oder anderen Anreize brauchen wir. damit wir Menschen für unsere Organisation begeistern und sie aktiv mitgestalten.

Keine Frage: Blockchain polarisiert. Die dahinterliegenden Organisationsprinzipien öffnen jedoch einen Raum an neuen Möglichkeiten – und das nicht nur im Netz, sondern auch in unseren Organisationen.