10 subversive Take-Aways für Führungskräfte und BeraterInnen

Als wir den Organisations-Soziologen Stefan Kühl für die CMW2021 zum Dialog geladen hatten wussten wir, dass er provokant formuliert: „Management-Prinzipien sind wie Sprichwörter – das Gegenteil ist immer genauso wahr“, „Die besten Purpose-Driven Organisationen sind Sekten und Terror-Organisationen“ und „Verlangen Sie bloß nicht von Ihren MitarbeiterInnen, dass sie ihr Mindset ändern sollen.“ Im Praxisdialog mit Stefan Kühl erfuhren 250 interessierte TeilnehmerInnen, wie man den Begriff der Agilen Organisation nutzen kann, ohne an ihn glauben zu müssen.

Wir haben die interessantesten Erkenntnisse aus dem Dialog weiter unten zusammengefasst und kommentiert. Gleich vorweg unsere 10 subversiven Take-Aways.

10 subversive Take-Aways für Führungskräfte und BeraterInnen

  1. Lies nicht nur die neuesten Management-Bücher, lies die alten. Alles Relevante über Organisation wurde im letzten Jahrhundert bereits gedacht.
  2. Nutze den Agilitäts-Diskurs, ohne daran zu glauben. Bediene dich dabei der Begriffe, die in der Organisation zurzeit modern sind (in der Regel merkt das keiner).
  3. Versuche nicht, das Mindset der Mitarbeitenden zu ändern (das funktioniert nicht). Um Verhalten zu verändern, drehe an den Formalstrukturen.
  4. Achtung vor dem Immunsystem der Organisation: es springt an, wenn es ungehemmt mit einer vom Mainstream in der Organisation abweichenden Realität konfrontiert wird​.
  5. Enttäusche die Hoffnungen der Organisation an (zu) einfache Patentlösungen langsam und in homöopathischen Dosen.
  6. Wenn du mit einen Sprichwort-artigen Management-Prinzip konfrontiert bist, denke dir das Gegensprichwort dazu. Aus der Kombination entstehen spannende Impulse.
  7. Management-Moden machen Führungskräfte und BeraterInnen zwar „dümmer“, aber auch handlungsfähiger, da Zweifel ausgeblendet werden. Nutze dazu die Moden und sei nicht einfach nur „gescheit“.
  8. Schalte hin und wieder das kritische Gehirn ab und mache einfach. Selbst die nicht intendierten Folgen des Handelns können sehr funktional sein.
  9. Wenn du neue Organisations-Prinzipien und deren Nebenwirkungen verstehen möchtest, schau auf Organisationen, die die Prinzipien idealtypisch umgesetzt haben. In Terror-Organisationen ist man zum Beispiel für den „Purpose“ bereit, sein Leben zu geben.
  10. Die ideale Organisationsform gibt es nicht – suche nach dem, was die Organisation jetzt voranbringt (bzw. auch dem, was ihr am wenigsten schadet).

Zu einfach? Nicht plausibel? Zu Sprichwort-haft? Vielleicht nur auf den ersten Blick. Für alle, die der Sache auf den Grund gehen möchten, könnte es sich lohnen, ab hier noch weiterzulesen.

„Agilität“ aktiviert uralte Organisationsprinzipien

Unter Agilität wird die Fähigkeit einer Organisation verstanden, sich kontinuierlich an ihre komplexe, turbulente und unsichere Umwelt anzupassen, lautet eine der gängigen Definitionen. „Ja was denn sonst?“ fragt Stefan Kühl. Was denn sonst ist die Aufgabe einer Organisation? Und wenn das so auf der Hand liegt, was soll die Definition? Durch die „wohlklingenden Werte-Formeln der Management-Mode Agilität“ merke man allerdings nicht gleich, dass es hier um das selbstverständliche Tagesgeschäft von Organisationen geht.

„Agile Organisation – eine typische Management-Mode?“

 

Unter dem Label „Agil“ ginge es laut Kühl im Kern meist um drei Organisations-Prinzipien:

  • Die Auflösung von Abteilungen (neues Schimpfwort „Silo“), damit alle mit allen in alle Richtungen permanent zusammenarbeiten
  • Der Abbau von Hierarchien („Hierarchie“ als nächstes Schimpfwort), um den Informationsverlust von oben nach unten und wieder retour zu reduzieren
  • Die Zurücknahme formaler Steuerung („Bürokratie“ als drittes Schimpfwort), damit MitarbeiterInnen selbst entscheiden können, wie sie Probleme am besten lösen

„Nichts Neues unter der Sonne“ argumentiert der Organisations-Soziologe. Diese Mechanismen würden seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts propagiert und kämen seitdem in Wellen immer wieder. Unter Labels wie „Agilität“, „Reinventing Organizations“ und „New Work“ rollt gerade die gleiche Welle. Oder in den Worten vom Management-Vordenker Peter Drucker: In den 1920er-Jahren wurde alles bereits gedacht, was wir heute in Organisationen kennen.

Wir kennen auch die Probleme dieser Organisations-Prinzipien

„Schauen Sie sich doch Organisationen an, die die jetzt gepriesenen Management- und Organisationsprinzipien am radikalsten umgesetzt haben!“ rät Kühl. Das wären dann zum Beispiel Terror-Organisationen oder politische Parteien, wenn es um agile Ideale wie „Purpose“ und „Hierarchiefreiheit“ geht. „Selbst das fortschrittlichste und agilste Unternehmen steckt diesbezüglich in den Kinderschuhen, im Vergleich zu beispielsweise links-politischen Organisationen, die aufgrund ihrer Überzeugungen (sprich „Purpose“) keine Hierarchie oder Formalisierung haben wollen“. Der Blick auf diese Organisationen zeigt aber auch, welche Probleme durch die vermeintlichen Lösungen entstehen.

Kühl nennt drei Probleme, die mit den oben genannten Organisations-Prinzipien einhergehen:

  • Identitäts-Probleme: Bildet man Einheiten, die für ein bestimmtes Ziel zuständig sind, entwickeln diese eine eigene Identität und die ist nicht immer kompatibel mit dem Rest der Organisation.
  • Politisierungs-Probleme: Wenn Hierarchien aufgelöst werden, dann reduziert das die unerwünschten Machtkämpfe nicht etwa. Es verstärkt sie sogar, da jedes Mal ausgehandelt werden muss, wer etwas wie und wo entscheiden darf.
  • Komplexitäts-Probleme: Durch das Abschaffen formaler Regeln erhöht sich die Komplexität und bedarf oft neuer Rollenklärungen, um handlungsfähig zu bleiben.

Doch der Blick auf unterschiedliche Organisationstypen fällt vielen (Führungskraft oder Berater nicht ausgeschlossen) schwer. Diese sind häufig nur auf einen Organisationstyp (das Unternehmen in einer bestimmten Branche) aus- und fortgebildet. Soziologen haben hier durch ihren weiter gefassten Organisationsbegriff einen klaren Vorteil.

Organisationsgestaltung mit Sprichwort und Gegensprichwort

„Management-Prinzipien sind wie Sprichwörter: Für jedes Prinzip gibt es auch ein ebenso plausibles Prinzip, das das Gegenteil ausdrückt​!“ argumentiert Stefan Kühl. Das muss auch so sein, denn jedes Organisationsprinzip hat erwünschte und unerwünschte Wirkungen. Für sich genommen ist jedes der wohlklingenden „Sprichwörter“ plausibel, was davon ablenkt, dass auch das Gegenteil wahr ist.

Wenn man beispielsweis Transparenz und Kommunikation propagiert, dann vergisst man dabei leicht, wie wohltuend und entlastend es sein kann, Kommunikation auch zu verhindern bzw. zu kanalisieren. Propagiert man mehr und bessere Führung als Lösung, dann übersieht man leicht, dass es an vielen Stellen sinnvoller ist, auf Führung zu verzichten und bestimmte Abläufe stattdessen konsequent durch technische Lösungen zu automatisieren.

Wenn man nun „Sprichwort“ und „Gegensprichwort“ durchdenkt, dann generiert man damit oft interessante Impulse: Wo sollte Organisation Kommunikation verhindern statt fördern? Und wo sollte Organisation sich Leadership ersparen, indem sie gewisse Abläufe „programmiert“?​

„Management-Prinzipien sind wie Sprichwort und Gegensprichwort“

Unser Job: Nebenwirkungen von Strukturentscheidungen balancieren

Jede Veränderung in einer Formalstruktur hat Funktionalitäten und Dysfunktionalitäten. Soziologische Organisationsforschung hat diese im Blick. Führungskräfte und BeraterInnen können organisationstheoretisches Wissen nutzen, um – neben den erwünschten Wirkungen – vor allem die unerwünschten Nebenwirkungen antizipieren zu können. Man kann dann auch entsprechend auf die Auswirkungen vorbereiten, die die Einführung einer Matrix-Organisation, die Umstellung auf inkrementelle Entwicklung oder die Eliminierung von Hierarchie-Ebenen haben.

Gerade das macht unseren Job als Führungskräfte und BeraterInnen so anspruchsvoll und interessant: Es geht nicht darum, das „ideale Modell“ zu finden und umzusetzen, sondern für das aktuelle Problem, das man gerade hat, die Lösung zu finden, die die Organisation in den nächsten 1-2 Jahren wieder etwas voran bringen kann.​

Managementmoden machen „dümmer“ – und das ist gut so!

„Wenn wir Management-Moden folgen, so macht uns das dumm. Wir verkürzen die Realität auf ein Sprichwort und blenden das Gegensprichwort aus.“ so Kühl. Jedoch: „Es geht nicht darum, immer gescheit zu sein!“. In Organisationen gebe es nämlich eine Rationalität der Dummheit. Wenn man eben nicht immer alle Nebenfolgen bedenkt, nicht alle Alternativen erwägt, dann entsteht Handlungsmotivation. Zweifel werden vermieden, und oft entstehen aus der durch scheinbare „Dummheit“ produzierten Dynamik heraus überraschende Effekte, die sinnvoll und funktional sind. Es komme also in Organisationen darauf an, manchmal „sein kritisches Gehirn auszuschalten“ und einfach zu „machen“. Denn je länger man über Nebeneffekte und Alternativen nachdenkt, desto mehr wird man im Entscheidungsprozess blockiert.

Als Führungskraft wie auch als BeraterIn sollte man sogar auf den „Verdummungs-Effekt“ von Management-Moden setzen, um Dynamik zu erzeugen. Man kann beispielsweise bewusst auf den Agilitäts-Diskurs setzen, um eine Vereinfachung der Diskussion zu ermöglichen. In den Worten von Kühl: „Wenn Sie etwas für sinnvoll halten, dann nennen Sie es doch einfach agil, wenn das in der Organisation gerade in Mode ist. In der Regel merkt das keiner.“

Aufklärung in homöopathischen Dosen

„Sie sollten Ihre Organisation nicht ungehemmt mit dem konfrontieren, was wir hier diskutieren.“ meint Kühl schließlich. Es wäre tatsächlich unklug, Organisationen mit einer organisationsoziologisch informierten Realität zu konfrontieren. „Das würde nur dazu führen, dass das Immunsystem anspringt und versucht den Impuls abzuwehren.“ Stefan Kühl rät stattdessen dazu, Beobachtungen in homöopathischen Dosen in die Organisation einfließen zu lassen. Nur so seien die Informationen in der Organisation verarbeitbar.

Als Führungskräfte und BeraterInnen sind wir somit mit einem weiteren Balance-Akt konfrontiert: Es gilt ständig abzuwägen, welche Enttäuschungen der Organisation auf welchen Ebenen zumutbar sind, um im Sinne der gewünschten Veränderungen wirksam zu sein. Neben dem Wissen und der Erfahrung aus ähnlichen Situationen erfordert diese Abwägung vor allem ein hohes Maß an Empathie mit den Mitgliedern der Organisation.

Verändere einfach dein Mindset?

In der Organisationssoziologie werden Personen als Strukturmerkmal einer Organisation verstanden und sind als solche sehr schwer zu verändern. Warum? Weil sich bei Erwachsenen die Kombination zwischen Selbst- und Fremderwartung schon längst zur Ausbildung einer „Persönlichkeit“ geführt hat. Mit diesem Verständnis sind daher Versuche, auf direktem Wege am „Mindset“ oder an der grundlegenden „Haltung“ zu arbeiten in der Regel vergeblich – wenn nicht sogar übergriffig und „kommen der Forderung nach einer Änderung der Persönlichkeit gleich“, erklärt Kühl. Daher lautet sein Plädoyer nicht von „Mindset“ oder „Haltungsänderung“ zu sprechen.

Vielmehr eignen sich laut Kühl „formalstrukturelle Veränderungen als ein effizientes Mittel, um Verhalten in der Organisation zu verändern“. Zu den Formalstrukturen gehören die Aufbau- und Ablauforganisation aber auch Personen an entscheidenden Stellen und Kommunikationsprozesse. Natürlich werden neue Formalstrukturen hier und dort auch unterlaufen, und es entstehen ungewollte Nebenwirkungen. Doch wie auch immer Verhalten sich verändert, es entstehen – und das ist wesentlich – neue Erlebnisse, die nicht ins alte Muster passen. Schließlich wird dann jeder sein eigenes Verhalten und die neuen Erfahrungen rationalisieren. Mit starker Zeitverzögerung (mitunter Jahre) kann das zu einer Anpassung von Denkstilen und Haltungen führen. Ein verändertes Mindset ist die Auswirkung – und nicht der Auslöser.

Agilität entzaubert – So what?

Wenn wir die Impulse aus der Organisationssoziologie ernst nehmen, was bedeutet das nun für uns als BeraterInnen und Führungskräfte? Den Begriff „agil“ aus dem Wortschatz verbannen? Oder nach dem Motto „jetzt erst recht“ bei jeder Gelegenheit noch eindringlicher die „agile Organisation“ fordern? Wohl keines von beidem.

Stattdessen halten wir fest: Agilität und der damit verbundene Diskurs hat in den letzten Jahren Entwicklungen angestoßen und Veränderungen ermöglicht, die davor vielleicht keiner für möglich gehalten hat. Gleichzeitig sehen wir, dass immer dann, wenn neue Organisationsprinzipien zu Mode gehypt werden, die nicht intendierten Folgen und die Gegenbewegung nicht ausbleiben. Und gerade das macht unseren Job so spannend und anspruchsvoll. Es bleibt uns auch in Zukunft nicht erspart, die richtige Balance zu suchen und jedes Mal aufs Neue zu erkunden, was die jeweils hilfreichen nächsten Schritte in der Entwicklung einer Organisation ermöglicht. Den Zettel mit den 10 subversiven Take-Aways haben wir dazu ab sofort immer dabei!

Stefan Kühl, Jahrgang 1966, ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Seine Bücher „Wenn die Affen den Zoo regieren – Die Tücken der flachen Hierarchien“ und „Das Regenmacher-Phänomen – Widersprüche im Konzept der lernenden Organisation“ sind Standardwerke der Managementliteratur. Für die ICG Change Management Werkstatt 2021 konnten wir ihn für eine Keynote, eine Podiumsdiskussion und einen intensiven Praxisdialog mit 250 interessierten MitgestalterInnen gewinnen.